Triebfahrzeuge:
Mit Seitenzug und Sperrklinke - die BR 65.10 der DR
   
 

Als Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die ersten Neubaulokomotiven der DR-Baureihe 65.10 in die Betriebswerke kamen, musste sich manch ein Lokführer erst an die neue Konstruktion gewöhnen. Doch nicht nur in den mitteldeutschen Industriezentren, sondern auch im Thüringer Wald und in Berlin sollten sich die neuen Kraftpakete bewähren.



"Die 65er? Kein schlechtes Pferd! Für mich war sie immer eine willkommene Abwechslung", erinnert sich Manfred Vollmar aus Gräfenroda im Thüringer Wald.

Die 65.10 eine Abwechslung? Wieso das denn?

Der vitale Meister, stets den Schalk in seinen Augen, antwortet nicht ohne Stolz: "Ach weißt du, mein Alltagsgeschäft war die Kohlenstaub-44. Wenn du das Fahren mit der gewöhnt warst, kam dir die 65er bescheiden vor. Trotzdem - dieses hohe Ross gehörte klar zu meinen Favoriten." Und warum?

Manfred Vollmar kennt viele Gründe. Als er im Herbst 1962 im Bahnbetriebswerk Arnstadt in den Fahrdienst kam, begann seine Arbeit zunächst als Heizer einer 65er. An die Betriebsnummer erinnert er sich nicht mehr, wohl aber an die Skepsis, die ältere Lokführer gegenüber der Tenderlok hegten. "Die waren ihre alten Preußen gewöhnt und konnten mit der hohen, modernen Bauweise wenig anfangen." Und das, obwohl die Maschine "absolut mehr Bums hatte, als die betagte T 14. Oder die P 8 - zwischen der und unserer Neubaulok lagen Welten! Du mußtest natürlich wissen, wie du mit der 65er umgehst, was sie mochte, und was sie nicht vertrug."

Arnstadt hatte im Verlauf des Jahres 1956 zehn nagelneue Lokomotiven direkt ab Werk erhalten. Den Anfang bildete 65 1004, die in Arnstadt am 27. Januar eintraf. Am 16. August kam dann als zehnte und vorläufig letzte Lokomotive 65 1037, übrigens erst nach 65 1038, die Arnstadt schon eine Woche zuvor erreichte.  

Einsatzplaner und Loktechnologen besaßen gute Gründe, die Neubaulok gleich in einer derart hohen Stückzahl am Nordrand des Thüringer Waldes zu stationieren. Die neue Baureihe bot für die Strecken rund um Arnstadt viele Vorteile. Mit einer zulässigen Fahrgeschwindigkeit von 90 Stundenkilometern, einer mittleren Achslast von 17,7 Tonnen und einem Treib- und Kuppelraddurchmesser von immerhin 1.600 Millimetern war sie zweifellos eine Hauptbahn-Maschine, bestens geeignet für den schweren Dienst vor den damals voll ausgelasteten Berufszügen. Ihr gutes, weil rasches Anzugsvermögen, wirkte sich ebenso positiv auf den Einsatzzweck aus wie ihre geringe Schleuderneigung.

Die Arnstädter Lokleitung nutzte die Eigenschaften vor allem im Berufsverkehr vor Zügen auf den Strecken nach Erfurt und Saalfeld. Natürlich war auch der Berufsverkehr nach Arnstadt selbst nicht unbeträchtlich, und auch hier ließ sich die 65.10 "artgerecht" verwenden.  

Dabei kamen die Maschinen auf wichtigen Nebenstrecken zum Einsatz, so von Ilmenau über Plaue sowie von Ohrdruf über Gräfenroda nach Arnstadt. Die anfänglichen Probleme und Startschwierigkeiten mit der neuen Baureihe, von denen man auch am Nordrand des Thüringer Waldes alsbald ein Klagelied singen konnte, hingen mit ihrer Enstehungsgeschichte in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre zusammen. Wichtige theoretische und praktische Ansätze zur Konzipierung, Konstruktion, Fertigung und Einsatzplanung einer Dampflokomotive mit den Merkmalen der späteren Baureihe 65.10 gingen auf das Wirken eines "Vorläufigen Lokomotivausschusses" der Deutschen Reichsbahn zurück. 1952 erteilte das Gremium dem Zentralen LOWA-Konstruktionsbüro in Berlin-Adlershof den Auftrag zur Konzipierung einer Typenreihe von Neubau-Dampflokomotiven. Innerhalb dieser Reihe sollten u.a. auch zwei äußerlich nicht unähnliche, relativ große Tenderlokomotiven entstehen: die Baureihen 65.10 und 83.10, beide mit der Achsfolge 1´D2´.

Während die leichtere 83.10 für den reinen Nebenbahndienst als Ersatz für die Baureihe 86 und die zahlreichen Typen der ehemaligen Klein- und Privatbahnen gedacht war, sollte die relativ schwere 65.10 als Mehrzweck-Tenderlokomotive die Baureihen 74, 75, 78, 93 und - vor Nahgüterzügen - auch die Baureihe 94 ersetzen. Das LOWA-Typenprogramm entstand Ende 1952, im Sommer 1953 begannen die Arbeiten an der Baureihe 65.10, und Anfang 1954 gelangte die 65.1001 bereits in die letzte Phase ihrer Fertigstellung. Die großen Probleme, die schon bei den ersten Probefahrten auftraten, hatten vor allem zwei Ursachen: Obwohl die Lokomotivbau-Industrie seit rund einem Jahrzehnt keine normalspurigen Dampflok-Neubauten mehr gefertigt hatte, wollte man das einstige Niveau der alten Reichsbahn gleich übertreffen und den Anschluss an den internationalen Stand erreichen.

Die allerersten Fahrten der 65 1001 enttäuschten indes, ließen einen zielgerichteten Versuchsbetrieb nicht zu und schienen die hochfliegenden Pläne zunichte zu machen. Erst, nachdem die Industrie erhebliche Umbauten vollzogen hatte, konnte die Fahrzeugversuchsanstalt Halle mit regulären Versuchsreihen beginnen. Inzwischen schrieb man den Monat August 1955; der Betriebsmaschinendienst brauchte die Lok mehr als dringend. Das Herstellerwerk, der VEB Lokomotivbau "Karl Marx" in Babelsberg, berücksichtigte zwar die wesentlichsten Kritikpunkte für den Serienbau, dennoch gelang nicht sogleich der große Wurf.

  Auch in Arnstadt bestätigte der alltägliche Einsatz ab 1956, was der Versuchsbericht aus Halle konstatiert hatte. So kann sich Manfred Vollmar lebhaft daran erinnern, wie empfindlich die Maschinen auf Leistungsschwankungen reagierten:

"Es stimmt schon" sagt er, "der Kessel hatte einfach nicht genug Reserven". Wer diese nicht gerade angenehme Eigenschaft zu wenig kannte, konnte mit der 65er böse Überraschungen erleben. Manfred Vollmar berichtet: "Es passierte auf der Fahrt von Erfurt nach Arnstadt. Wir hatten mit unserer 65 den P 1301 am Haken, einen Zug, der gattungsrein aus "Donnerbüchsen" bestand und nicht ganz leicht war. Mein Heizer war absolut nicht gut drauf, er hatte Zucker. Außerdem erschien uns der Wohlstand auf dem Tender, die Kohle, nicht gerade importverdächtig. So passierte es, mein Heizer mußte dringend etwas essen, behielt das Feuer nicht im Griff, und uns ging der Dampf aus. Glücklicherweise saß im Zug ein Kollege, der beim Halt hilfsbereit nach vorn auf die Lok kam und uns ohne viel Gewese unter die Arme griff."

Dieser zweite Heizer, es handelt sich übrigens um Harry Heydenbluth (heute Lokführer der Museumslok 03 1010 vom Bw Halle P), hatte zwar schon seine Dienstschicht hinter sich, packte aber sofort zu. "So rührten Harry und ich im Feuer umher und warfen unverzagt Kohle auf, bis es wieder Dampf gab und die Reise nach Arnstadt weitergehen konnte. So war das eben - mit der Kameradschaft der Kollegen haben wir technische Mängel behoben - ohne große Worte und Pünktlichkeitsmanager."

Einige Tage später - der Ärger über die Dampfmangelfahrt war noch nicht ganz verraucht - sollte Lokführer Vollmar einen langen Leerzug von Ilmenau nach Arnstadt bringen. Abermals drohte die geringe Kesselreserve zum Zwischenfall zu werden. "Wir kamen nicht gerade mit blasenden Sicherheitsventilen in Ilmenau an, da verlangte der Fahrdienstleiter auch schon die Bespannung des Leerzuges zurück nach Arnstadt. In aller Eile liefen wir um, setzten uns Tender voran an den Leerpark und erklärten der ungeduldigen Rotmütze: ÔChef, wir schaffen es nicht. Kein Dampf, keine Zugfahrt. Wenn du drauf bestehst, dass wir gleich abfahren - auf der Steigung nach Roda gibts eine Brauerei, bis dahin könnte ich dir eine Garantie geben..." Wir haben es schließlich doch geschafft, ohne Zwischenhalt an dem besagten Institut. Verdient gehabt hätten wir´s aber..."

Ein ganz eigenes Problem der 65.10 stellte auch der Regler mit Seitenzug und Sperrklinke dar. Nicht nur, dass dieses Teil völlig ungewohnt war, es hatte auch seine speziellen Tücken. Weil das Führerhaus, mit dem der Regler konstruktiv verbunden war, gegenüber dem Kessel nie richtig fest saß und ewig zu wandern schien, schloss sich besagter Regler gelegentlich automatisch - eine in diesem Falle recht unangenehme Eigenschaft. Der Heißdampfregler, im Grunde keine schlechte Idee, bewährte sich nicht. "Ständig waren die Ventile undicht", klagt Manfred Vollmar noch heute. Auch die ursprüngliche Ausführung des Mischvorwärmers war von Übel. "Erst, als man dies klobige Ding durch den neueren Mischvorwärmer ersetzte, den auch die Reko-Loks bekamen, waren wir zufrieden."

Spätestens Mitte der sechziger Jahre hatte man die Neubaudampflokomotiven dann aber im Griff. "Im Prinzip", lobt Manfred Vollmar, "war die Lok ja eine recht gute Konstruktion. Man konnte sie eben auch mal richtig antreten lassen, die Beschleunigung war einfach Spitze. Nicht selten haben wir so erheblich Fahrzeit gut gemacht und Verspätungen herausgefahren, besonders vor dem Schnellzug nach Ilmenau. Keine der alten Preußenloks konnte da mithalten. Und noch was: Die Maschine schleuderte selten, eigentlich nur dann, wenn andere längst durchgedreht hatten!"

Lediglich eine sehr feuchte Unart konnte der Baureihe niemand mehr abgewöhnen. Bedingt durch den zu kleinen Kessel neigte die Lok zum Wasserüberreißen. Mit vieldeutiger Miene zieht Meister Manfred einen bemerkenswerten Vergleich: "Das funktionierte wie die tierische Verdauung: Konnten wir unser hohes Roß nur mit schlechter Kost - sprich: miserabler Kohle - füttern, gab es Verdauungsprobleme - sprich: eine schlechte Verbrennung. Hatte die Gute dann zu allem Übel zuviel kaltes Wasser gesoffen, passierte, was passieren mußte: Die 65er kotzte - anders haben wir es nie gesagt." Sehr positiv wirkte sich dagegen der Aschkasten der Bauart Stühren aus. Aufgrund seiner Konstruktion bot er die vom Heizer stets hoch geschätzte Möglichkeit, unterwegs "das Feuer zu putzen", mithin die angefallene Schlacke in den Aschkasten zu kippen. Durch die oben angeordneten Luftklappen konnte das Personal "bei guter Luftzufuhr ganz munter weiterfahren", ohne die Schlacke illegal "irgendwo auf der Strecke abzuleichtern."

Das Bw Arnstadt fuhr mit seinen 65ern bemerkenswerte Umläufe, die in machen Fahrplanperioden weit über Erfurt hinaus bis Weimar und sogar Apolda reichten. Auf der anderen Seite von Erfurt ging es bis Wasserthalleben.  

"Die enormen Vorräte im Tender machten sich bezahlt", unterstreicht der Lokführer, "überleg mal, mit insgesamt neun Tonnen Kohle hatte die Lok wesentlich mehr an Bord, als die preußische G 12, und das war immerhin eine Schlepptendermaschine!" So gab es einen Umlauf Arnstadt- Saalfeld, der genau an dieser Eigenschaft ansetzte: Gleich dreimal unmittelbar hintereinander ging es zwischen den beiden Städten hin und her, anschließend sofort nach Erfurt weiter, ohne Kohle nachzuladen. Die Arnstädter Personale, die sich am Bahnsteig abwechselten, nannten dieses Spiel, das eigentlich harter Alltag war, schlicht und ergreifend "Seifenkistenrennen".

Auch im Güterzugdienst erbrachte die 65.10 respektable Leistungen. Manfred Vollmar, im Regeleinsatz auf den Kraftprotzen der Baureihe 44 zu Hause, findet für die 65.10 vor Güterzügen dennoch anerkennende Worte: "Sie hat mich eigentlich auch da nicht enttäuscht. So gab es einen Durchgänger nach Ilmenau, den Dg 7538, der oft volle 400 Tonnen, die planmäßige Grenzlast, auf die Schienen brachte. Hatte man das richtige Gefühl für die Lok, dann ging die Sache ohne Dampfmangel ab. Auch der abendliche Güterzug mit Personenbeförderung Gmp nach Stadtilm auf der Berg- und Talbahn Arnstadt - Saalfeld konnte eine respektable Länge haben, was uns mit der 65.10 nie hinderte, pünktlich in Stadtilm anzukommen. Gleich nach dem Abkuppeln mußte immer kräftig gehobelt werden, um die Rücktour mit dem Personenzug nicht zu gefährden. Da man mit der Neubaulok aber auch zügig rangieren konnte, standen wir in aller Regel wieder rechtzeitig am abfahrbereiten Zug nach Arnstadt."

Gute zwei Jahrzehnte nach ihrer Indienststellung gingen 1975 die ersten 65er des Bahnbetriebswerks Arnstadt auf den Rand, da die Deutsche Reichsbahn Ausbesserungsmaßnahmen nicht mehr für erforderlich hielt. Einen der Hintergründe für das allmähliche Dienstende der großen Tenderlok bildete die Stationierung von Diesellokomotiven der Baureihe 118 ab Januar 1975. Der 21. Januar 1975 brachte das Ende für 65 1004. Sie war nicht nur die erste Arnstädter 65er, die man auf das Abstellgleis schob, sondern auch in anderer Hinsicht interessant: Mit dieser Lok hatte man versucht, die Kohlenstaubfeuerung der Bauart Wendler auf einer Tenderlokomotive anzuwenden. Manfred Vollmar kann sich zwar an das ungewöhnliche Erscheinungsbild dieser Maschine noch erinnern, hat sie aber im Einsatz nicht mehr erlebt: "Zu meiner Zeit stand sie eigentlich immer kalt im Schuppen."



Nach ihrem Rückbau auf Rostfeuerung gelangte 65 1004 zum Bahnbetriebswerk des damaligen Berliner Ostbahnhofes und zog die sogenannten Sputnik-Züge auf dem Berliner Außenring. Nachdem sie im August 1973 wieder heimgekehrt war, musterte Arnstadt die Lok noch im Jahre 1975 endgültig aus. Bereits im Winterfahrplan 1975/76 gab es dann nur noch einen zweitägigen Umlauf für die bewährte Baureihe. Doch erst 1979 endete mit der "Zurückstellung von der Ausbesserung" der 65 1061 das Kapitel der Baureihe 65.10 im Bahnbetriebswerk Arnstadt.

Trotz ihrer konstruktiven Mängel konnte die Neubaulokomotive insgesamt durchaus überzeugen. Zwar erreichte sie zu keinem Zeitpunkt die vorzüglichen Eigenschaften der Baureihe 23.10, stellte aber andererseits gegenüber den nur wenig älteren Schwesterloks der Baureihe 83.10 einen spürbaren Fortschritt dar. Fand der tägliche Betriebsdienst das richtige Einsatzfeld, dann überwand auch das Lokpersonal die anfängliche Skepsis und wußte die kräftige, wendige Maschine sehr zu schätzen.

Mit dem in Kürze erscheinenden TT-Modell knüpft Gützold an die Vorzüge der Neubaulokomotive an, und der Modellbahner bekommt ein hohes Ross, das er universell einsetzen kann.

Dr. Franz Rittig




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